Chinesische Kalligrafie (中国书法/中國書法, shūfǎ) ist eine bedeutende Kunstform, die in der chinesischen Kultur eine lange Tradition hat. Sie geht weit über das bloße Schreiben von Schriftzeichen hinaus und gilt als Ausdruck von Ästhetik, Philosophie und der inneren Haltung des Schreibers. Im Vergleich zu anderen Formen der Kalligrafie, wie der arabischen oder westlichen, ist die chinesische Kalligrafie eng mit der chinesischen Schrift und dem daoistischen Konzept des „Qi“ (Lebensenergie) verbunden. Sie kombiniert Kunstfertigkeit und geistige Disziplin und stellt eine Form des meditativen Ausdrucks dar.

Ausschnitt in Halbkursivschrift aus einem Lehrbuch des Kalligrafen Tian Yingzhang 田英章. Foto © Marie Schröder 2021
Ausschnitt in Halbkursivschrift aus einem Lehrbuch des Kalligrafen Tian Yingzhang 田英章. Foto © Marie Schröder 2021

Traditionell wird die chinesische Kalligrafie mit dem sogenannten „Vier Schätzen des Studierzimmers“ (文房四宝/文房四寶,wénfángsìbǎo) ausgeführt:

Pinsel (笔/筆,bǐ): Der Pinsel wird aus Tierhaaren (z. B. Wolf, Kaninchen) hergestellt und ist flexibler als andere Schreibwerkzeuge. Seine Flexibilität erlaubt es dem Künstler, unterschiedliche Strichstärken und Texturen zu erzeugen.

Tusche (墨,mò): Traditionell wird die Tusche aus festen Tuschestangen hergestellt, die auf einem Tuschestein mit Wasser gemahlen werden. Dieser Prozess hat einen meditativen Charakter.

Papier (纸/紙,zhǐ): Das meistverwendete Papier ist „Reispapier“ oder „Xuan-Papier“, das sich durch seine weiche, saugfähige Struktur auszeichnet, was die Pinselführung und den Tintenfluss beeinflusst.

Tuschestein (砚/硯,yàn): Auf diesem Stein wird die feste Tuschestange gerieben und mit Wasser zu flüssiger Tusche vermischt. Der Tuschestein ist ein symbolisch bedeutsames Werkzeug und steht oft im Zentrum der Kalligrafie-Praxis.

1. "Schatz": Der Pinsel, u.a. bestehend aus Wolf-, Wiesel-, Ziegen-, Pferde- oder Bärenhaar. Foto © Kolja Quakernack
1. "Schatz": Der Pinsel, u.a. bestehend aus Wolf-, Wiesel-, Ziegen-, Pferde- oder Bärenhaar. Foto © Kolja Quakernack

Einfach und doch schwierig

Es gibt heutzutage über 55.000 Schriftzeichen, die alle nach einem bestimmten Prinzip aufgebaut sind. Was bei uns die Buchstaben des Alphabets sind, sind im Chinesischen in etwa die sogenannten Radikale, aus denen sich ein Schriftzeichen zusammen setzt. Insgesamt gibt es davon 214 Stück. Theoretisch muss man nur acht Grundstriche lernen, um damit alle Schriftzeichen schreiben zu können. Neben den überschaubaren Grundstrichen, sind es die ganz persönliche Pinselführung, das Zusammenspiel der vier Schätze und die Stimmung des Kalligraphen, die den Schreibprozess beeinflussen. All das trägt letztlich zur Qualität eines fertigen Schriftstückes bei, weshalb es unmöglich ist, mehrfach exakt dieselbe Kalligrafie zu erstellen. Selbst große Meister (wie etwa Wang Xizhi 王羲之, der Meister der Halbkursivschrift, 4. Jh. n. Chr.) haben es probiert und waren mit ihrem Ergebnis nicht zufrieden.

2. "Schatz": Die Tusche.  Sie ist entweder im flüssigen Zustand oder als fester Tuscheblock zu kaufen. Die feste Tusche muss vor dem Schreiben zusammen mit Wasser auf einem Reibstein gerieben werden. Foto © Kolja Quakernack
2. "Schatz": Die Tusche. Sie ist entweder im flüssigen Zustand oder als fester Tuscheblock zu kaufen. Die feste Tusche muss vor dem Schreiben zusammen mit Wasser auf einem Reibstein gerieben werden. Foto © Kolja Quakernack

Schriftstile


Es gibt fünf offizielle Schriftarten in der chinesischen Kalligrafie.

 

Die älteste und von der Strichstärke her gleichmäßigste Schrift ist die Siegelschrift (篆书/篆書). Sie wird langsam, in langen rundlichen Strichen geschrieben.

 

Die Kanzleischrift (隶书/隸書) war lange Zeit die offizielle Schrift der Beamten Chinas. Sie entwickelte sich jedoch aufgrund der schnelleren Schreibgeschwindigkeit zu den drei folgenden Schriftarten weiter und wurde zunehmend durch sie abgelöst.

 

Die Regelschrift (auch Standardschrift genannt, 楷书/楷書 bzw. 真书/真書) ist eine sehr strenge Schrift mit dicken und dünnen Strichen, die Neulingen in China traditionell zuerst gelehrt wird. Sie ist am ehesten vergleichbar mit den westlichen Blockschriftbuchstaben, die in der Grundschule gelehrt werden.

 

Die Halbkursivschrift (Laufschrift, 行书/行書) erinnert optisch an eine schnell geschriebene Form der Regelschrift und ist vergleichbar mit der täglichen Handschrift eines Erwachsenen mit dem Kugelschreiber.

 

Die Kursivschrift (Gras- oder Konzeptschrift, 草书/草書) ist eine sehr freie, dynamische Schrift, die nur schwer zu lesen ist und denen unerschlossen bleibt, die nicht vorher die ihr zugrunde liegenden Strichcharakteristiken erlernt haben. Sie ist mit keiner im Westen genutzten Schrift vergleichbar.

 

Der Vollständigkeit halber sei hier noch die Orakelknocheninschrift (甲骨文) erwähnt, die in ältester Zeit in Rinderknochen und Schildkrötenpanzer eingeritzt gefunden wurde und unverkennbar piktografische Strichformen enthält. Über sie ist jedoch so wenig Wissen gesichert und ihre Beispiele so begrenzt, dass sie meist nicht als eigener Schriftstil aufgeführt wird. 

3. "Schatz": Das Papier. Das handgeschöpfte chinesische "Reispapier" ist dünner als westliches Kopierpapier. Foto © Kolja Quakernack
3. "Schatz": Das Papier. Das handgeschöpfte chinesische "Reispapier" ist dünner als westliches Kopierpapier. Foto © Kolja Quakernack

Wie unterscheidet sich die Chinesische Kalligrafie von der Schriftkunst anderer Kulturen?

Schriftzeichen und Ästhetik

Chinesische Kalligrafie verwendet chinesische Schriftzeichen, die sich stark von alphabetischen Schriftsystemen unterscheiden. Jedes Zeichen ist ein eigenes Kunstwerk, das aus Linien, Punkten und Kompositionen besteht, die Balance und Harmonie ausdrücken.

Werkzeuge und Techniken

Chinesische Kalligrafie wird traditionell mit einem Pinsel geschrieben, nicht mit einem Stift oder Federhalter wie in westlicher Kalligrafie. Diese Technik erzeugt unterschiedliche Strichstärken und Flusslinien, die die emotionale Stimmung des Schreibers einfangen.


Philosophische Tiefe

Während Kalligrafie weltweit als Kunstform gesehen wird, hat sie im chinesischen Kontext eine tiefere Bedeutung, die zusätzlich mit Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung verbunden ist. Es geht darum, innere Harmonie und eine Verbindung zwischen Geist und Körper zu erreichen.

4. "Schatz": Der Reibstein. Auf ihm wird die Tusche zusammen mit Wasser zur schwarzen Schreibflüssigkeit gerieben. Foto © Kolja Quakernack
4. "Schatz": Der Reibstein. Auf ihm wird die Tusche zusammen mit Wasser zur schwarzen Schreibflüssigkeit gerieben. Foto © Kolja Quakernack

Warum Chinesische Kalligrafie?

 

Kulturelles Verständnis

Das Erlernen chinesischer Kalligrafie eröffnet ein tieferes Verständnis für die chinesische Kultur, Geschichte und Philosophie. Da Schriftzeichen Jahrtausende alte Traditionen und kulturelle Werte transportieren, ist Kalligrafie ein direkter Zugang zur kulturellen Identität Chinas.

 

Konzentration und Achtsamkeit

Chinesische Kalligrafie erfordert volle Konzentration, Präzision und Geduld. Der meditative Prozess hilft, Achtsamkeit zu schulen und den Geist zu beruhigen. Kalligrafie wird oft als Mittel der Selbstkultivierung gesehen, um Geduld, Ausdauer und eine ruhige mentale Verfassung zu entwickeln.

 

Künstlerische Entfaltung

Da jeder Strich eine eigene Bedeutung hat, können Kalligrafinnen und Kalligrafen durch ihre Arbeit Emotionen ausdrücken und ihre Persönlichkeit und Kreativität auf eine einzigartige Weise entfalten.


Hand-Augen-Koordination und Feinmotorik

Kalligrafie verbessert die Feinmotorik und schult das Zusammenspiel von Hand und Auge. Der kontrollierte Fluss des Pinsels hilft dabei, Bewegungen präziser und fließender zu gestalten.


Philosophisches Lernen

Chinesische Kalligrafie vermittelt Werte wie Balance, Harmonie und das Streben nach Vollkommenheit, die aus der daoistischen Philosophie abgeleitet sind. Das „Qi“ fließt durch den Pinsel und drückt sich in den Schriftzeichen aus.

Chinesische Kalligrafie ist eine tiefgründige Kunstform, die sowohl intellektuell als auch spirituell bereichernd ist. Sie vereint Kultur, Philosophie, Kunst und Meditation in einer einzigen Aktivität und bietet sowohl Neulingen als auch Fortgeschrittenen die Möglichkeit, sich persönlich und künstlerisch weiterzuentwickeln.